un·systemischer Ratschlag – September 2021

Die Geschichte heterarchischer Organisationsideen der letzten 50 Jahre.

Diesmal anstatt eines Ratschlags ein kurzer Überblick über Organisationskonzepte, die das Primat der Hierarchie relativieren – die Geschichte heterarchischer Organisationsideen der letzten 50 Jahre.

(Eingehendere Aussagen samt weiterführender Literatur finden Sie hierzu im Kapitel „Entzauberung der Hierarchie“ im Buch von Alfred Janes und Karl Prammer „Kontextuelle Organisationsberatung – Theorien, Methoden, Instrumente, Fallbeispiele aus der Wiener Schule“ im Carl-Auer Verlag / Heidelberg 2021, S. 70 – 99.)

Bis Anfang dieses Jahrhunderts waren organisatorische Ordnungsrahmen mit wenigen Ausnahmen hierarchisch von oben nach unten strukturiert. Neben Ausnahmen auf Seiten gesellschaftspolitisch/künstlerischer Experimente , die meist rasch implodiert oder explodiert sind – beispielsweise das „Monte Verita“ Experiment nahe Ascona oder Otto Mühl’s „Friedrichshof“ im Burgenland – zählen hierzu insbesondere
• Rensis Likert’s überlappende Dreiecksgruppen mit den „Linking Pins“,
• „eingehegte Heterarchien“ als hierarchische Strukturen und hierarchisches Handeln kompensierende Interventionsmaßnahmen,
• Parallelorganisationen auf Zeit“ mit eigener kommunikativer Dynamik im Unterschied zur „Regelorganisation“ für schwergewichtige Entwicklungsprozesse mit hohem Innovations- und Kreativitätsanspruch,
• das Konzept „Agilität“ in seinen unterschiedlichen Facetten,
• Brian Robertsons‘s „Holacracy“-Ansatz, sowie
• die “Teal Organization” bzw. die “Purpose Driven Organization” von Frederic Laloux und anderen in Fortsetzung von Frithjof Bergmann’s stark ideologisch gesellschaftspolitisch gefärbten “New Work”-Gedanken.
 
Rensis Likert führte zu Beginn der 60er Jahre Organigramme mit Gruppen in Dreiecksform ein, die sich über sogenannte
„Linking Pins“ vertikal und horizontal überlappen. Die RepräsentantIn eines Linking Pins ist grafisch in einem gleichschenkeligen Dreieck bei einer vertikalen Überlappung mit einem hierarchisch übergeordneten Dreieck in der oberen Ecke positioniert und übt im eigenen Dreieck eine Koordinationsfunktion aus; gleichzeitig ist er/sie auch Mitglied im übergeordneten Dreieck. Bei einer horizontalen Überlappung ist er/sie grafisch am Basiseck zweier nebeneinander auf gleicher hierarchischer Ebene liegender „Dreiecks“-Gruppen positioniert und bringt die Anliegen der einen Gruppe in die andere Gruppe ein und umgekehrt. Obwohl Zuständigkeiten in einem hierarchischen Über- und Untereinander sowie Nebeneinander festgelegt sind, fließt aktiv das spezifische Wissen und die Beweggründe für das Handeln einer Gruppe in die relevante übergeordnete Gruppe bzw. untergeordneten Gruppen sowie in relevante nebeneinander angeordnete Gruppen ein. Ein permanenter Austausch zwischen korrespondierenden Gruppen sowie eine permanente Partizipation über alle hierarchischen Ebenen wird quasi strukturell sichergestellt.
 
Ab den 70er/80er Jahren ziehen Schritt für Schritt Maßnahmen/Konzepte, die Alfred Janes und Karl Prammer als
„eingehegte Heterarchien“ bezeichnen, in Organisationen ein. Diese basieren weitgehend auf den T-Gruppen-Experimenten Kurt Lewins und Erfahrungen aus der darauf aufbauenden Gruppendynamik sowie auf einer humanistisch, arbeitswissenschaftlichen Tradition. Im deutschsprachigen Raum leisten hier systemisch/konstruktivistische Trainer/BeraterInnen-Biotope wie die Wiener Schule der Organisationsberatung Pionierarbeit. Anlass- bzw. themenbezogene Arbeitsgruppen auf Zeit, permanent oder punktuelle eingerichtete hierarchie- und bereichsübergreifende Managementmeetings, Strategieworkshops, Teamentwicklungsworkshops sowie anlassbezogene Entwicklungsworkshops zur bereichs- und hierarchieübergreifenden Lösung anstehender fachlicher und organisatorischer Aufgabenstellung mit eigenen kommunikativen Spielregeln ziehen zunehmend in den Organisationsalltag ein. Spezifische Instrumente für die Steuerung dieser „eingehegten“ Heterarchie-Sozietäten sowie für eine effektive Interaktion darin – teilweise transferiert aus den unterschiedlichsten Arbeitsfeldern, in denen der Umgang mit und in sozialen Systemen im Mittelpunkt steht, wie beispielsweise der systemischen Familientherapie – werden entwickelt und ausdifferenziert. Parallel dazu etablieren sich in den 80er und 90er Jahren die Rolle der ModeratorIn, der in- und externen WorkshopbegleiterIn, der OrganisationsberaterIn, etc. Vielerorts werden eigene interne Abteilungen für „Personalentwicklung“ oder/und „Organisationsentwicklung“ zur Bereitstellung von Konzepten, Instrumenten und Personal für die Einführung und Handhabung „eingehegter Heterarchie“-Maßnahmen eingerichtet. Dazu korrespondierend erfährt um die Jahrtausendwende das Rollenbild der Führungskraft eine Adaption in Richtung „die Führungskraft als Coach“ sowie „Mentorship als Führungsauftrag“.
 
Vor dem Hintergrund des sich in den 70iger und 80er Jahren zu etablieren beginnenden Projektmanagements und der parallel dazu gemachten Erfahrungen mit „eingehegten Heterarchien“ begannen ab den 90er Jahren systemische Organisationsberater in Unternehmen für die Realisierung von organisatorischen Entwicklungsprozessen mit schwergewichtigen Veränderungsansprüchen mit der Einrichtung von einer Art
„Parallelorganisation auf Zeit“. Im Sinne der Albert Einstein zugeschriebenen Aussage „You cannot change a system in the same thinking that created the system!“ wird dabei mit hierarchisch verankerten heterarchischen Organisationen auf Zeit gearbeitet. Der „TransformationsManagement“-Ansatz beschreibt dieses Vorgehen theoretisch und praktisch sehr detailliert. Die Grundidee lautet
1. Entwicklungsprozesse mit einem hohen Kreativitäts- und Innovationsanspruch müssen sich bezüglich ihres kommunikativen Geschehens von der Regelorganisation freispielen! In „geschützten Räumen“ muss offenes, tabubefreites Kommunizieren straffrei möglich gemacht werden.
2. Unterschiede im Wissen, Denken und Handeln von betroffenen Funktionsgruppen sowie internen und externen Akteursgruppen liefern einen Mehrwert, sofern es gelingt, dass diese Unterschiede wertschätzend und als relevant von der jeweils anderen Gruppe aufgegriffen werden und mit den dabei gewonnenen Anregungen in einer gemeinsam konstruierten Wirklichkeit weitergearbeitet wird.
3. Über die Einrichtung von unterschiedlichen funktionalen Stellen, Gremien und der Etablierung spezifischer Kooperationsspielregeln kann ressourcenökonomisch über alle Entwicklungsphasen eine hohe Beteiligung relevanter Umwelten bzw. unmittelbar Betroffener realisiert werden. Dadurch wird sowohl die Realisierung des Anspruchs nach einer hohen Lösungsqualität als auch einer hohen Lösungsakzeptanz sichergestellt.
 
In den 50er Jahren benennt Talcot Parsons vier – für Organisationen notwendige aber nicht hinreichende – Funktionen, nämlich „Adaption“ (Anpassung an die Umwelt), „Goal Attainment“ (Zielverfolgung von Organismen und Persönlichkeiten), „Integration“ (Integration einer Handlungen mit zeitgleich, vorherigen und nachfolgenden Handlungen) und „Latency“ (Aufrechterhaltung latent vorhandener Werte und Normen). Daraus wird später das Akronym
AGIL gebildet. (Parsons selbst verwendet nur ein einziges Mal den Begriff „agility“ und im Vorwort einer Neuauflage seines Werks arbeitet Brian Turner 1991 noch mit dem Akronym GAIL. Immer wieder wird in dieser Zeit vereinzelt in wissenschaftlichen Publikationen mit dem Terminus „agil“ gearbeitet, aber in der Welt des Managements und der Organisationsgestaltung taucht er erst nach der Jahrtausendwende mit dem „Manifesto for Agile Software Development“ prominent auf. In diesem Manifest wird mit Fokus auf Softwareentwicklungsprozesse vier klassischen Entwicklungswerten jeweils ein höherwertig zu betrachtender handlungsleitender Wert zur Seite gestellt: „Individuen und Interaktion“ zählt mehr als „Prozesse und Werkzeuge“, „Funktionierende Software“ mehr als „umfassende Dokumentation“, „Zusammenarbeit mit dem Kunden“ mehr als „Vertragsverhandlung“ und „Reagieren auf Veränderung“ mehr als „Befolgen eines Plans“. Dirk Baecker stellt 2017 in der Formensprache von George Spencer-Brown dann eine verblüffend einfache generelle Definition für agile Systeme vor, nämlich
 

 
In der Zwischenzeit ist „agil“ zu einem Modebegriff geworden und steht vor unzähligen aktuell gehandelten Management-Instrumenten und organisatorischen Ordnungsrahmen. In VUCA-Welten – Umwelten die von „Volatility“ (Unbeständigkeit), „Uncertainty“ (Unsicherheit), „Complexity“ (Komplexität) und „Ambiguity“ (Mehrdeutigkeit) gekennzeichnet sind sowie in chaotischen Umwelten stellt die Sicherstellung von Agilität auf struktureller und personaler Ebene ein überlebensnotwendiges Muss dar. In relativ stabilen Umwelten kann Agilität auf struktureller Ebene rasch (zu) teuer werden und auf personaler Ebene rasch zu demotivierender Unterforderung führen.
 
Holacracy von Brian Robertson in den 00er Jahren für sein Unternehmen Tenery Software entwickelt und publizistisch erstmals skizziert, bekommt in den 10er Jahren als alternativer neuer Ordnungsrahmen für Organisationen breite Aufmerksamkeit. Viele Unternehmen beginnen sich darin zu versuchen, darauf spezialisierte Unternehmensberatungsfirmen tauchen unmittelbar am Markt auf. Über die „Policies“ in Form von „Roles“ (Rollen) und „Rules“ (Regeln), die detailliert ausdifferenziert vorgegeben sind, werden „Circles“ (Kreise) und übergeordnete „Super-Circles“ bzw. untergeordnete „Sub-Circles“ – im Sinne teilautonomer selbstorganisierender Teams – „eingehegt“. Ein vom übergeordneten Kreis benannter „Lead-Link“ (Führungsverbindung) und ein aus dem untergeordneten Kreis benannter „Rep-Link“ (Repräsentativverbindung) bzw. bei Kreisen, die auf einer Ebene angeordnet sind, jeweils ein vom jeweiligen Kreis benannter „Cross-Link“ (Kreuzverbindung) sorgen für die Kommunikation zwischen den „Circles“. Beim „Lead-Link“ und den Kreismitgliedern handelt es sich um sogenannte „Assigned Roles“, also vom übergeordneten Kreis zugewiesene Rollen. Beim „Rep-Link“ sowie den weiters für jeden „Circle“ vorgegebenen Rollen „Facilitator“ und „Secretary“ handelt es sich um  sogenannte „Elected Roles“ (gewählte Rollen), die von den Kreismitgliedern selbst über einen „Integrated Election Process“ (integrierter Wahlprozess) gewählt werden. Obwohl sich Robertson in keiner Weise auf Rensis Likert beruft, erinnern seine „Circles“ und „Links“ – mit der Ausnahme, dass es hier zwischen jedem Kreis zwei Links gibt, im Grunde sehr an Likert’s 40 Jahre älteren Dreiecke und „Linking Pins“. Das besondere neben diesen weitreichenden „Einhegnungs“-Vorschreibungen, die nicht von ungefähr rasch Assoziationen in Richtung der Vorschreibungen des 100 Jahre alten „Taylorismus“ aufkommen lassen, stellt die Ausrichtung an einem übergeordneten „Purpose“ bei einer gleichzeitigen „Entpersonalisierung“, also einer Fokussierung weg vom konkreten kooperierenden Mitarbeiter hin zu interagierenden Rollen, dar. Robertson schreibt beispielsweise von „Organization beyond ego“ oder „distributed governance“. Auch die Betrachtung des in der englischen Managementliteratur gebräuchliche Begriff „purpose“, der im Deutschen für „Sinn & Zweck“ steht, unterstreicht diese „beyond ego“-Dimension. Denn bei „purpose“ scheint die nicht domestizierbare, introspektiv zugängliche Dimension des individuellen Erlebens eines Organisationsmitglieds, welche der Begriff „Sinn“ einfängt, zugunsten des Begriffs „Zweck“ – als konstruierbares mit einer Ordnungsfunktion versehenen Artefakts – verloren zu gehen.
 
Und mit „purpose“ kommen wir bei der letzten hier benannten und gleichzeitig sehr frühen Relativierung von hierarchischen Ordnungsrahmen an, den
„purpose driven Organizations“ bzw. der „Teal Organization“ von Frederic Laoux. Diese Ansätze aus den letzten zehn Jahren können auch als aktuelle und organisationsfokussiertere Fortführung der stark ideologisch gesellschaftspolitisch motivierten Aussagen Frithjof Bergmann’s aus den frühen 80er Jahren angesehen werden. Bergmann konstatierte damals für sich das reale Scheitern sozialistischer Ideen in den Ländern des Ostblocks und sah auch in der „liberty“-Interpretation in den USA, mit deren Entscheidungsoption zwischen weitgehend vorgegebenen Handlungsalternativen, keine zukunftsweisende Antwort auf die sich nach dem zweiten Weltkrieg primär kapitalistisch ausrichtende Erwerbswelt. Seine Aussagen in Richtung „Selbstverwirklichung“ bzw. „Selbsterfüllung“ blieben aber mehr Idee als dass diese einen konkreten Ordnungsrahmen für Organisationen liefern. Ein wenig haftet dies auch den Überlegungen zu den „purpose driven Organizations“ und der „Teal-Organization“ Laloux’s an. Auf einer sehr generellen Ebene skizziert Laloux fünf – mit jeweils einer Farbe gekennzeichnet – Ordnungsrahmen im Kontext der Menscheitsgeschichte; angefangen vom roten „Wolf Pack“ (Wolfsrudel) bis herauf zum petrol gekennzeichneten „Living Organism“ (lebender Organismus), eben der „Teal Organization“. Letztere bezeichnete er als generell anzustrebende Organisationsform von Institutionen bzw. Unternehmen. Er benennt hierzu drei zentrale Kriterien, die Organisationen bzw. organisatorisches Handeln heute generell leiten sollten: „Selfmanagement“ (Selbstführung), „Wholeness“ (Suche nach Ganzheit), „Evolutionary Purpose“ (evolutionärer Sinn/Zweck). Leitendes Element auf Ebene eines konkreten Ordnungsrahmen ist „Purpose Driven“ in Ausprägungen wie „Overall Purpose“, Higher Purpose“ oder „Shared Purpose“. Zum anderen sind es organisatorische Gestaltungselemente wie „Parallel Teams“, „Web of Individual Contracting“ und „Nested Teams“, die Laloux zur Umsetzung seiner Idee einer „Living Organism“-Organisation vorschlägt. Weiters benennt und unterlegt er seine Vorstellungen zum Handeln in einer solchen „Teal Organization“ mit Interventionstechniken und Instrumenten, die Kreativität bzw. Innovation und agiles Verhalten bei Mitgliedern von Organisationen über alle Ebenen erzeugen sollen und können. Teilweise greift er dabei auf die bereits vorhandenen Techniken und Instrumente „eingehegter Heterarchie“ zurück, teilweise – meist beispielhaft aus spezifischen Fallbeschreibungen heraus skizziert – benennt er hoch kreativ auch ganz neue Instrumente. Theoretisch etwas differenzierter sind Franziska Fink und Michael Moeller’s Aussagen zu „purpose driven“. Sie nennen als zentrale Leitkriterien „Selbstorganisation mit Spielregeln“, „Partnerschaft / achtsamer Umgang / Persönlichkeitsentwicklung“, „Vertrauenskultur , Agilität/Flexibilität“ und „Evolution im Ökosystem“.